Nur Menschen aus meinem engsten Umfeld wissen, dass es eine Lücke in meiner Geschichte gibt. Dieses Puzzleteil möchte ich nun finden und ich bin ein wenig aufgeregt deswegen…
Ich wuchs auf in einer Großfamilie mit drei Geschwistern, zwei Cousinen und einem Cousin. Immer dabei waren auch meine Großeltern, die in meinem Leben eine besonders wichtige Rolle spielen. Wir sieben Kinder waren an Wochenenden, in Ferien und an Feiertagen fast immer zusammen. Wir verbrachten eine Bullerbü-Kindheit in Oma und Opas Garten oder im Hunsrück, wo ich einen großen Teil meiner Kindheit verbrachte.
Wo ist der andere Teil der Familie?
Alle erwähnten Personen, die meine Kindheit prägten und mir immer noch sehr nahe sind (auch wenn wir uns inzwischen wesentlich seltener sehen), gehören dem mütterlichen Teil der Familie an. Aber da gibt es doch noch eine andere Seite…
Ich lernte den Vater meines Vaters kennen als strengen Mann, der mir schon früh viel abverlangte: “Kind, was ist denn das für ein Händedruck?”. Er konnte nicht gut mit Kindern, denke ich rückblickend. Von der anderen Seite der Familie war ich es gewohnt, meinen Großeltern in den Arm zu fliegen und einen liebevollen Kuss auf die Stirn zu bekommen – und nicht distanziert eine Hand zu schütteln. Hier war das anders. Und doch hatten wir eine undefinierbare Verbindung zueinander.
Mein Opa fuhr einige Jahre lang jeden Sonntag mit seinem mit Schafsfell gepolsterten Mercedes etwa 70 Kilometer bis zu uns nach Hause, um mit meinem Vater und mir schwimmen zu gehen. Ich liebte dieses Ritual, obwohl mir mein Opa irgendwie “fremd” vorkam. Er sprach nicht viel mit mir, war immer auf Perfektion und Zukunftsblick ausgerichtet. Dabei war ich gerade mal in der ersten Klasse. Die Ausflüge zum Schwimmen waren mir wichtig und doch hörten diese irgendwann einfach auf.
Die Oma starb schon vor meiner Geburt
Ich sollte nie einen stärkeren Bezug zu meinem Opa bekommen und wir blieben uns fremd. Er starb vor einigen Jahren, ohne dass er mir jemals etwas aus seinem Leben erzählt hat oder er an dem meinen teilhaben wollte. Ich stand an seinem Grab und versuchte mich zu erinnern, wann ich zuletzt mit ihm gesprochen hatte – es musste einige Jahre her gewesen sein.
Schon als kleines Kind interessierte mich, wo denn meine andere Oma ist. Die Frau meines Schwimm-Opas. Sie starb leider schon vor meiner Geburt an Brustkrebs und hinterließ ihre Kinder, meinen damals gerade erst volljährigen Vater und seine jugendliche Schwester, sowie ihren Mann zurück. Warum kaum über meine Oma gesprochen wurde, habe ich bis vor Kurzem nie in Frage gestellt.
Sie muss etwa in meinem Alter gewesen sein (Mitte vierzig) als sie starb. Und bis gestern hatte ich nur ein einziges Bild von ihr gesehen. Es hing bei meinem Opa im Flur. Wenn wir bei ihm waren, stand ich lange vor diesem Foto und prägte es mir ein. Denn sonst gab es nichts, was mir eine Verbindung zu ihr hätte geben können.
Wer war sie? Sehe ich ihr ähnlich?
In den letzten Monaten beschäftigte es mich immer intensiver, dass ich eigentlich viel zu wenig von der Familie meines Vaters weiß. Bisher war das in Ordnung, weil ich es ja nicht anders kannte. Außerdem war mir die große, vertraute Familienbande mütterlicher Seits immer genug. Mir fehlte nichts.
Seit einiger Zeit spüre ich, dass mir ein Puzzleteil fehlt. Diese Lücke in meiner Geschichte lässt sich schließen, aber der kürzeste Weg ist nicht immer der Nächste. Jeder Mensch bewältigt seine Vergangenheit und Trauer anders: Der eine verdrängt, der andere muss reden.
Ich habe eine Weile mit mir gerungen, ob es mir überhaupt zusteht, das Schweigen zu brechen. Doch ich kam zu dem Schluss, dass es nicht nur ein Teil der Geschichte meines Vaters und meiner Tante ist, sondern auch ein Vermächtnis an mich.
Die Vergangenheit wirkt immer auf die Zukunft ein, ob man will oder nicht.
Davon bin ich überzeugt. Meine Großeltern mütterlicher Seits haben meine / unsere Kindheit reichlich gefüllt mit ihren Lebensgeschichten. Natürlich wissen wir nicht alles, aber doch so viel, dass wir einen Roman damit füllen könnten. Diese Erlebnisse haben ihre Zukunft stark beeinflusst, ebenso das meiner Mutter und ihrer Schwester…
Ich muss die Lücke schließen
Meine Mutter verriet mir einmal, dass die Mutter meines Vaters ein liebevoller und warmherziger Mensch war. Viel mehr konnte sie nicht erzählen, da sie sie nur kurz kennenlernen durfte. Mein Vater ähnelte ihr äußerlich und ich ähnele meinem Vater. Sah sie aus wie ich heute und wie war sie? All das weiß ich nicht, aber ich werde wohl heute mehr dazu erfahren.
Denn ich habe ein Telefon-Date mit meiner Tante aus Berlin, die mir fehlende Puzzleteile geben möchte. Ich bin ziemlich aufgeregt, da ich sicher bin, dieses Gespräch wird mich bereichern. Vielleicht auch aufwühlen. Mein Familiengefüge wird sich ergänzen. Denn ich erfahre Dinge aus der Vergangenheit, an der ich zwar nicht teilgenommen habe, die sich aber dennoch auf meinen Vater und somit auch irgendwie auf mein Leben ausgewirkt haben.
Eine paar Bilder meiner Oma habe ich derweil schon von meiner Tante bekommen. In ihrem Jugendfoto sehe ich ein wenig meine Tochter…
Hattet ihr auch eine Lücke in eurer Geschichte und konntet diese schließen? Ich freue mich, wenn ihr mir von euren Erfahrungen in den Kommentaren berichtet.
Alles Liebe, eure
5 Kommentare
Wunderschöner Artikel, der mich sehr berührt hat. Zum einen, weil ich gerade über eine Blogparade (blödes Wort für dieses Thema) über das Thema “Lücken” nachdenke und schon einige Geschichten von meinen Klienten gesammelt habe….. und zum anderen, weil ich selbst auch eine riesige Lücke in meinem Leben habe, die mir immer wieder aufzeigt, wie wichtig unsere Familien-Wurzeln sind. Danke für den schönen Artikel. Ich würde mich freuen, wenn ich deinen Artikel irgendwann in meiner Blogparade “Lücken” lesen dürfte. Herzliche Grüße Silke
Liebe Silke,
die Familienwurzeln und unsere Herkunft sind wegweisend. Das erlebe ich auch immer wieder bei Freunden, mit denen ich über dieses Thema spreche. Mir ist wichtig zu wissen, woher ich komme und wie meine Vorfahren waren, was sie erlebt haben… All das trägt sich nämlich in unserer eigenen Geschichte fort. Sehr gerne darfst du meinen Artikel bei dir verlinken. Gib mir bitte Bescheid, wenn es soweit ist.
Liebe Grüße, Stephie
Ich wünsche dir, dass du diese Lücke bald freudig schießen kannst! Habe deine Geschichte hierzu sehr gerne gelesen und hoffe, dass du das eine oder andere Puzzleteil auch mit uns teilen magst. :-)
Ich habe die Geschichte(n) meiner Großeltern leider auch nie richtig erfahren. Ich kann jetzt leider keinen mehr fragen. Wenn man es kann, ist es einem oft nicht wichtig und wenn man es will ist es meistens zu spät. Schön, dass dein Interesse noch rechtzeitig geweckt wurde.
GlG, monerl
Einiges habe ich gestern schon telefonisch erfahren. Noch in diesem Jahr werde ich mich mit meiner Tante treffen, um in alten Fotoalben zu blättern und Geschichten dazu zu hören. Nicht alles ist angenehm zu erfahren und es geht mir nahe, obwohl ich meine Oma ja nie kennengelernt habe. Über Vieles muss ich selbst erst einmal nachdenken, Gehörtes sacken lassen. Bestimmt gibt es demnächst hier eine Auflösung… Lieben Dank für dein Feedback. Genau dafür habe ich diesen Post geschrieben: Um andere daran zu erinnern, dass es irgendwann zu spät sein kann, um noch gewisse Ereignisse der Familie aus vergangenen Jahren zu erfahren. LG, Stephie
Ach, das ist sooo schön geschrieben
Ich drück dich